Lehren und lernen: Warum ich es liebe zu «leere»

keinen Unterschied leere lernen lehren

Mein Dialekt (Züritüütsch) macht im Gegensatz zur deutschen Sprache keinen Unterschied zwischen «lehren» und «lernen», es existiert nur das Verb «leere». Die beiden deutschen Bedeutungen sind in «leere» enthalten. Daher liebe ich dieses Verb.

«leere» ermöglicht einen beidseitigen Wissensaustausch und -zuwachs, eine Win-win-Situation, die sich weder um Hierarchien noch Intellekt kümmert. Kurz: Wenn Unterricht im Sinne von «leere» stattfindet, dann profitieren Schülerinnen und Schüler, Studierende sowie Lehrpersonen. Damit meine Vorstellung von gutem Unterricht möglich ist, muss ich selbst offen, neugierig und wissbegierig bleiben. Nur so erhalte ich mir die Freude, Wissen erarbeiten zu lassen und zu vermitteln.

Phase 1: Jägerin und Sammlerin – ich lerne, was ich lehren will

Habe ich mich für zu bearbeitende Kompetenzen und ein Thema entschieden, oft noch bewaffnet mit den Wunschlisten meiner Schülerinnen und Schüler, beginnt die Sammelphase. Ich jage Wissen und Materialien nach, die mir ein- und zufallen. Es ist eine aufregende Zeit, da ich mich in unerforschte Gebiete und unbekannte Gegenden begebe. 

Ideen kommen unter der Dusche, beim Hören eines Songs, beim Autofahren, während einer Lektüre oder eines Gesprächs. Klar gibt es Kommentare zu Lehrmitteln, Handreichungen, Anmerkungen, die man einfach befolgen und sich so viel Zeit sparen könnte. Aber das fühlt sich fremd an, ist so nicht meins. Die erwähnten Unterlagen nehme ich als Anregungen, lasse mich inspirieren, bin mit dem Thema schwanger, gehe meinen Gedanken und Inputs nach, sammle unterschiedliche Materialien, mache mir Notizen. Ich höre mir Podcasts an, schaue (Kurz)Filme an, durchforste Bücher. Alles unter dem Aspekt der Wissensansammlung, ohne Wertung, ohne darüber nachzudenken, ob das für mein Zielpublikum passend und altersgerecht ist.

Ich erweitere in dieser Phase meinen eigenen Horizont. Und so füllt sich nach und nach ein Ordner auf meinem Computer. Ein völlig unstrukturierter Ordner, mit vielen unterschiedlichen Informationen. Während der Sammelphase habe ich bereits viel Neues erfahren und gelernt, altes Wissen berichtigt, bin auf völlig unbekannte Fakten gestossen. Die Lust, dieses Material zu verwerten, aufzubereiten und zu vermitteln, wächst mit jedem Tag mehr.

Phase 2: Lernziele formulieren – ich lege fest, was gelernt wird

Der nächste Schritt ist das Formulieren der Lernziele. Damit ich Lernziele herausarbeiten kann, muss ich mich von dem angesammelten Wissen, den neuen Erkenntnissen und dem vorhandenen Material gedanklich distanzieren, und mich bewusst auf die Lernziele der gesamten Lektionenreihe sowie der einzelnen Lektionen fokussieren. Ein Lernziel ist für mich der rote Faden meines Unterrichts, auf das sich jede Aktivität bezieht.

Lernziele zu formulieren ist mühsam. Die Frage, was am Ende einer Lektion als wahrnehmbarer Wissenszuwachs überprüfbar ist, ist zeitraubend und intensiv. Immer wieder wird umformuliert, geschärft, runtergebrochen. Aber am Ende lohnt sich diese Arbeit, weil mir die anschliessende Planung und die Auswahl viel leichter fällt, ja schon fast von alleine geht.

Phase 3: Planung der Lektionen – ich plane, wie gelernt wird

Stehen die Lernziele, beginne ich mit der konkreten Planung. Welche Materialien wende ich an? Sind sie geeignet für das Zielpublikum? Welche Methoden bieten sich an, welche möchte ich einsetzen oder einführen? Welche Medien setze ich ein? Wie rhythmisiere ich sinnvoll? Was ist an überprüfbarem Wissenszuwachs machbar? Braucht es Differenzierungsmöglichkeiten? Wie lassen sich die Aktivitäten mit bereits vorhandenem Wissen verknüpfen? Welche Transfermöglichkeiten ergeben sich? Welche Lernspur eignet sich?

Phase 4: Wer lehrt, lernt und wer lernt, lehrt

Die Planung ist abgeschlossen, die Unterrichtseinheiten geplant, das Material geordnet und vorbereitet, der Unterricht kann wie geplant stattfinden. – Weit gefehlt!

Im Unterricht findet die Interaktion zwischen Lehrperson sowie Schülerinnen und Schülern statt. Gängige Gedankenmuster und stereotype Meinungen sollen hinterfragt, Fakten diskutiert und überprüft, die Neugier geweckt und alle Sinne angesprochen werden. Das schreit förmlich nach Diskussionen, Fragen, weiteren Recherchen und anschliessenden Änderungen und Erweiterungen der Unterrichtsplanung. Guter Unterricht fordert alle heraus, sowohl Lehrpersonen als auch Schülerinnen und Schüler. Und deshalb findet keine einzige Lektion genauso statt, wie sie geplant wurde.
Das ist der Grund, warum ich es liebe, zu lehren oder lernen oder auf gut Züritüütsch: zu «leere».

6 Kommentare zu „Lehren und lernen: Warum ich es liebe zu «leere»

  1. Liebe Gabriella
    Danke für diesen Text. Da bekomme ich direkt ein bisschen Heimweh, nach dem Lehrerinnendasein. Lernen und Lehren gehören für mich auch zusammen. Das macht das Leben so spannend. Es gibt immer wieder Neues zu lernen und wie schön ist es, wenn ich das auch weitergeben darf. Liebe Grüsse Jasmine

    1. Clotilde 🙂
      Deine Unterstützung und Mithilfe machen es doch aus, dass wir unsere Jugendliche herausfordern und weiterbringen können. Ich hoffe sehr, dass du mir noch viele Jahre erhalten bleibst.

  2. Liebe Gabriella,

    über die Jahre habe hinweg habe ich mir das Wort „leere“ abtrainiert, weil es immer wieder Fragen gab, ob ich jetzt lerne oder lehre. Beim Lesen deines Textes realisierte ich, wie gern ich dieses Wort eigentlich mag. Darum werde ich es wieder in meinen aktiven Wortschatz integrieren. Wenn jemand nachfragen wird, ob ich jetzt lerne oder lehre, werde ich sagen: beides. 😉
    Ich freue mich schon auf deine nächsten Texte. ❤️

    Herzlich, Yvonne

    1. Liebe Yvonne
      Ich freu mich extremstens, dass gerade du mir einen allerersten Kommentar hinterlassen hast.
      Dass mein Text sogar etwas bewirkt, ist natürlich das absolute Sahnehäuptchen 🙂

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