Wir führten ein Leben als Zigeuner, mit und ohne Kinder (Migrationsportrait)

Gastautorin: Yesenia Buschor (Wahlfach Schreiben 

Ich möchte mich bei Milena und Felix für ihre Offenheit, Interesse, Vertrauen, Freude, Hilfe und Zeit bedanken. Wir sassen drei Stunden am Tisch und sprachen über ihre wunderschöne Reise durchs Leben.
Danke, dass ihr das mit mir geteilt habt. Auch für euer Einverständnis diese Geschichte zu veröffentlichen, möchte ich mich bedanken.

Meine zwei Interviewpartner

Milena und Peter lernte ich im Jahr 2018 kennen. Da wir von Zwillikon nach Affoltern umgezogen waren, hatten wir neue Nachbarn. In unserem früheren Quartier kannte ich alle und jeden, jeder hatte sein eigenes kleines Haus. Da in Affoltern lebten viel mehr Menschen auf einem Fleck. Mir fiel es ein wenig schwer mit der Anpassung, doch meine Mutter kannte schon nach einer Woche alle Nachbarn aus beiden Mehrfamilienhäusern. Doch mit Milena sprach sie am meisten, immer noch 🙂 .

Als ich einmal den Hausschlüssel vergessen hatte, liess Milena mich in ihre Wohnung und machte mir eine Tasse Tee. Wir unterhielten uns und sie erzählte mir aus ihrem Leben. Es war sehr spannend, ihr zuzuhören und so entschied ich mich, sie als Interviewperson für das Migrationsportrait zu wählen. Mein Vater riet mir, zusätzlich auch ihren Mann zu interviewen, weil er sich schon mit ihm gesprochen hatte und seine Geschichte auch interessant klang.

So befragte ich beide. Das Interview war alles andere als kurz und langweilig, ich konnte sehr profitieren und viel Neues erfahren. Aus der Lebensgeschichte von Milena und Felix lernt man sehr viel über unglaublich unterschiedliche Kulturen. Es war ein sehr lehrreiches und faszinierendes Interview. Mein Wissen über Essen vergrösserte sich beispielsweise durch dieses Gespräch.

Meiner Meinung nach haben sie das spannendste Leben, das ich kenne. Als ich sie fragte, wie man sie sich am besten als Reisende beschreiben würde, sagte Felix: “Wir führten ein Leben als Zigeuner, mit und ohne Kinder.”

Abenteuerlust

Milena ist in Jugoslawien geboren. Sie lebte auf einem Bauernhof mit ihren Eltern und Geschwistern, in Kiseljak. Sie musste schon früh arbeiten, was bedeutete, die Tiere füttern, im Haushalt mitarbeiten und für die Schule lernen. Schon in den frühen Schuljahren merkte sie, dass sie ein Flair für Sprachen hat. So reiste sie mit 19 nach London, um zu studieren. Ihre Mutter fragte sie immer wieder: “Was willst du dort machen? Du kennst niemanden.”

London

Sie kannte niemanden in London und war ganz auf sich allein gestellt, das stimmt, doch das machte ihr nichts aus. Sie war sehr beeindruckt von der grossen Stadt und all den schönen Attraktionen. Milena mietete eine kleine Wohnung, in der sie nur zum Lernen oder Schlafen war. Tagsüber arbeitete sie in einem Hotel und abends lernte sie. Sie nahm eine Stelle in einem Hotel an der Rezeption an. Dort schloss sie schnell Freundschaften. So verging ein wenig die Zeit und sie lebte sich gut in London ein.

Milena und Felix

Eines Abends, als sie eine Kollegin in eine Bar begleitete, entdeckte Felix sie. Er hatte sie zwar schon oft gesehen, doch nie angesprochen, denn die beiden arbeiteten im gleichen Hotel. Felix nahm also seinen ganzen Mut zusammen und sprach sie an. Milena hatte vor kurzem einen Verkehrsunfall gehabt und konnte deswegen nicht tanzen, also redeten die beiden die ganze Nacht miteinander. Mit der Zeit wurden sie gute Freunde und später immer mehr.

Felix war aus der Schweiz nach England ausgewandert wegen seines Berufs. Er hatte die Lehre als Koch abgeschlossen und arbeitete in einem Swiss Hotel in England als Küchenchef. Er war und ist immer noch begeistert von seinem Beruf als Koch. Sein Ziel war es, ganz nach oben an die Spitze zu gelangen. In seiner Branche ist das allerdings sehr schwierig und anstrengend. Dieses Ziel verlangte von ihm sehr viel Flexibilität und grossen Einsatz. Doch das nahm er in Kauf.

Eindrücke des Stadtlebens

Milena war mit neunzehn das erste Mal im Ausland, ihre Familie Kilometer weit weg. Es war ein Schock, den sie sehr schön fand. Sie war sich daran gewohnt, in einem kleinen Dorfe zu leben, doch jetzt in einer so grossen Stadt wie London zu leben, war ein spannendes Abenteuer. Mit Felix war es nur noch schöner dort. Sie genoss es richtig. Sie hatte nur manchmal Heimweh.

Was sie immer noch sehr beeindruckt, ist das Königliche Museum. Sie hatte es nur einmal besucht, doch sie liebte es, es war wunderbar. Sie empfiehlt es jeder und jedem nach London zu gehen. Sei es, um dort zu leben oder Ferien zu machen. Sie beschrieb London als eine unendliche Entdeckungsreise. Man wird London nie ganz ausforschen können. Auch um dort zu studieren, ist es sehr praktisch und schön zu gleich.

Milena sagt, dass sie gemerkt habe, dass sie in der grössten Stadt von Europa sei. Alle Personen waren gut gekleidet und überall ertönte Musik jeglicher Art. Auch der Verkehr war speziell auf seine Art und Weise. Die gelben Taxis und die roten Busse im Nebel der Londoner Stadt.

Das Wetter war für Regenliebhaber perfekt, denn jeder Passant trug einen Schirm mit sich herum. Es konnte von einer Sekunde auf die nächste regnen. Doch der Regen war nicht dauerhaft. Milena hat sehr viel von diesem unvergesslichen Aufenthalt profitiert und für ihr Leben mitgenommen.

Zwischenstation Spanien

Milena traf sehr früh auf ihre grosse Liebe Felix. Er war ein Spitzenkoch und liebte das Abenteuerleben genauso wie sie auch. Sie passen wie Puzzlestücke zusammen. Felix wurde eine neue Stelle in einem anderen Restaurant angeboten, und zwar in Argentinien. Am Vorstellungsgespräch sagten sie ihm, sie würden ihn einstellen, wenn er verheiratet wäre. So kam es zur kleinen Hochzeit von Milena und Felix.

Wenige Wochen später wurden sie nach Spanien versetzt. Weil die politische Lage in Argentinien kritisch war, mussten sie für ein paar Monate in Spanien bleiben. So konnten sie sich ein wenig ausruhen und da sie gerade frisch verheiratet waren, passte das gut. Felix und Milena lernen sehr gut und schnell Sprachen. So fiel es ihnen leicht, in Spanien bereits die Grundlagen des Spanischen zu erlernen.

Argentinien

Auf dem Weg nach Argentinien erfuhren sie, dass ein drittes Familienmitglied unterwegs war. Für Milena war so ein Umzug sehr spannend. Mit 21 Jahren in ein anderes Land und einen anderen Kontinent zu ziehen, war sehr aufregend. Sie schrieb oft mit ihrer Schwester und telefonierte manchmal mit ihrer Mutter. Sie war ein wenig traurig, denn sie wusste, dass ihre Mutter bei der Geburt ihres ersten Kindes und des ersten Enkels der Familie nicht dabei sein konnte.

Doch das konnte sie ihrer Mutter natürlich nicht sagen, denn das hätte ihre Mutter sehr traurig gemacht, erklärte sie mir. Als “gute” Tochter hätte sie eigentlich in Jugoslawien bleiben müssen und dort einen ausgewählten Mann heiraten sollen, doch ihre Mutter hatte ihr erlaubt, zu studieren. Allerdings war die Mutter davon ausgegangen, dass Milena wieder nach Jugoslawien zurückkehren würde. Das geschah nie, denn Milena buchte nie eine Rückreise.

Einleben in Argentinien

Als sie dann endlich in Argentinien ankamen, wurden sie von Wärme umarmt. Daran erinnert sich Milena noch sehr stark, wie nett und offen alle Menschen waren. Felix musste sofort an die Arbeit, da sie auf der Arbeit bereits Monate im Verzug waren. Milena freundete sich mit anderen Frauen an und lernte schnell das argentinische Spanisch. Sie hatten einen riesigen Garten und feierten dort oft am Wochenende “Grillfeste”. Es war eine schöne Zeit, sagen beide.

Milena war sehr oft alleine, ihr wurde langweilig und so fing sie wieder an zu lernen. Sie wollte ihr Spanisch perfektionieren. Als sie ihr Ziel erreicht hatte, wollte sie sich besser in Buenos Aires auskennen. So ging sie jeden Tag laufen und kannte schon nach einigen Wochen die grosse Stadt in- und auswendig. Das war ein Vorteil, denn bald wäre das Baby zur Welt gekommen und es war ein Vorteil, wenn man einige Spielplätze kannte, sagte sie mir.

Familienzuwachs

Als ihr Baby da war, war es ihr nicht mehr langweilig. Sie war fasziniert davon, wie das Baby jeden Tag wuchs und neue Sachen lernte. Felix hingegen musste sehr hart arbeiten und genoss daher umso mehr das Wochenende mit seinem Sohn und seiner Frau. Er erklärte mir, dass es ihm jeden Tag sehr schwerfiel, zwölf Stunden zu arbeiten und nicht seinem Kind zusehen zu können, wie es wuchs. Doch Felix wusste, mit harter Arbeit konnte er seinem Sohn eine bessere Schule bezahlen und so auch eine bessere Zukunft bieten.

So gründeten sie eine kleine Familie, die zwei Jahre später mit der Geburt eines kleinen Mädchens vollständig war. Milena langweilte sich nach der Geburt ihrer Tochter keine einzige Sekunde. Sie lernte von den Erfahrungen anderer Mütter und liebte es, mit ihren Kindern unterwegs zu sein. In Buenos Aires hatten sie sehr viele Freunde und ein wirklich schönes Leben.

Felix wollte aber mehr aus seiner Karriere herausholen. Nach 15 Jahren in Argentinien hatte er es geschafft, als Abteilungsleiter zu arbeiten. So bekam er immer mehr Stellenangebote.

China

Nach dem Leben in Argentinien (das nun schon 15 Jahre zurückliegt), Marokko, England, Schweiz und Spanien erwartete die beiden China. Felix bekam eine Jobofferte in China als Chef einer Hotelreihe. Die beiden liessen ihre Kinder, die damals junge Erwachsene waren, in der Schweiz zurück, um ein neues Abenteuer zu erleben. Milena war sehr aufgeregt, weil sie eine total neue Erfahrung machen würden. Sie konnte die chinesische Sprache weder lesen, noch verstehen oder sprechen im Gegensatz zu den Sprachen zuvor.

Als sie in China ankamen, wurden sie direkt in ihrer neuen Wohnung untergebracht. Felix beschrieb die Aussicht aus dem 32. Stock als unglaublich, denn alle grossen Gebäude sahen wie Schuh-Kartons aus. Milena war ganz auf sich gestellt, denn Felix musste sehr viel arbeiten und hatte eine Übersetzerin, die alle Gespräche mit den Mitarbeitern übersetzte.

Neue Herausforderungen

Milena jedoch musste alles selber machen. Einkaufen war eine der grössten Herausforderungen für sie. Sie wusste weder, was auf der Packung stand, noch was drin war. Die Verkäuferinnen konnten ihr auch nicht helfen. Da traf sie eines Morgens auf eine deutschsprechende Frauengruppe. Sie ging zu ihnen und stellte sich vor. Sofort wurde sie in die Gruppe aufgenommen. So erfuhr sie, dass es so eine Art Vereine für nicht chinesisch sprechende Hausfrauen gab. Natürlich meldete sie sich sofort an und kam mit allen Frauen, die aus aller Welt stammten, bestens aus.

Zu diesem Zeitpunkt sprach und verstand Milena bereits sieben Sprachen perfekt. Das waren Serbisch, Russisch, Bosnisch, Englisch, Spanisch, Deutsch und Französisch. Sie hatte sehr viel profitiert in den vergangenen Jahren. Doch irgendetwas in ihr trieb sie an, Chinesisch zu lernen. Sie wollte diese Kultur verstehen und somit auch die Sprache. Also fing sie mit Kinderstoff an. Sie steigerte sich sehr schnell, bis sie einigermassen Chinesisch konnte. Sie konnte es schreiben und lesen, aber nicht gut sprechen. Also meldete sie sich zu einem Chinesisch-Sprachkurs an.

Nach einigen Wochen beherrschte sie die Grundlagen sehr gut und gehörte bereits zu den Fortgeschrittenen. Milena bewies sich einmal mehr, dass man zum Lernen nie zu alt ist. Das fand ich überwältigend: Sie lernte Chinesisch, obwohl sie bereits über 50 Jahre alt war.

Eine völlig neue Kultur

Doch die neue Kultur zu lernen, fiel ihr schwerer als die Sprache. Eines Morgens ging sie wie üblich auf den Markt, um Fisch zu kaufen. Sie zeigte dem Fischer, welchen sie gerne hätte. Er nahm den Fisch und fragte sie, ob sie ihn filetiert haben wollte oder nicht. Sie sagte ihm, sie hätte gerne sechs Stück. Als er zu schneiden anfing, bemerkte sie, dass der Fisch noch lebte.

Sie konnte nicht mehr hinsehen, da das Tier lebendig filetiert wurde und das sehr langsam. Milena ass den Fisch nur, weil sie ihn nicht umsonst hatte leiden lassen wollen. Dieses Erlebnis konnte sie nie mehr vergessen. Sie isst deshalb bis heute keinen Fisch mehr.

Beide störten sich ein wenig am Umgang der Chinesen mit den Tieren. In dieser Kultur wurden sie, aus der Sicht von Europäern, gefoltert und nicht respektvoll behandelt.

Felix war fasziniert davon, wie die Chinesen grosse Menschenmassen in kurzer Zeit transportieren können. In nur drei Minuten steigen mehr als 100 Personen in die U-Bahn ein oder aus. Das ist möglich, weil die Züge genau dort halten, wo sich die Menschenreihe befinden. Auch die Beladung eines Schiffes ist in zwei Stunden fertig und hier in Europa braucht es mehrere Stunden.

Milena und Felix verbrachten zehn Jahre ihres Lebens in China und lernten eine Menge.

Wohin die Reise noch geht

Milena und Felix antworteten sehr schnell auf diese Frage. Beide würde wieder nach China ziehen. Es waren die schönsten 10 Jahre ihres Lebens. Die Kultur, Personen, Architektur und das Essen sagten den beiden sehr zu. Sie fühlten sich einfach wohl und zu Hause. Doch weil es bisher keine Gelegenheit gab, bleiben sie vor erst mal in der Schweiz. Auch in der Schweiz fühlen sie sich gut.

Natürlich ärgert sie ein wenig das Wetter, doch das ist eine Nebensache, sagt Milena. Das Reisen ist ihre Flucht vor dem Winter. So verbringen sie regelmässig Zeit im Ausland. Meist handelt es sich dabei um spontane Ferien, erklärt Felix.

Vor kurzem waren sie in der Südschweiz. Wegen der Pandemie achten sie trotz ihrer Spontaneität darauf, dass sie nur an Orte gehen, wo es am wenigsten Fälle gibt. So schützen sie sich und ihre Nächsten. In zwei Jahren wollen sie aber wieder richtig reisen. Die Destinationen stehen bereits fest: China und Argentinien. Sie hoffen, dass sich bis dahin die Situation mit dem Corona-Virus beruhigt hat.

Ich habe sie gebeten, viele Fotos zu machen, damit ich einen Eindruck bekommen, wie das Leben in China hinter der Fassade aussieht.

Was ich mitnehme

Was mir Milena und Felix während des Gesprächs beigebracht haben, ist, dass man sehr freundlich sein soll. Mit allen Menschen aus aller Welt. Um sich in einem neuen Land einleben zu können, muss man sehr anständig und freundlich sein. Dieses Verhalten ermöglicht viele Begegnungen, Kontakte und Optionen.

Auch verlangt das Einleben Geduld. Eine neue Sprache zu lernen oder sich an einen Ort zu gewöhnen, brauchen Zeit. Milena und Felix hatten diese Geduld ihr Leben lang. Offenheit ist ein weiterer, wichtiger Punkt. Für alle Kulturen oder Wohnsituationen offen sein und sich nicht abschrecken lassen. Wer sich gut in einem neuen Land einleben will, soll aktiv sein. Nicht einfach zu Hause bleiben, sondern das Land, die Personen und die Kultur kennenlernen.

Das Wichtigste ist aber, dankbar zu sein. Dankbar für jeden Tag und für alles, was man hat. Nicht alle Menschen haben das Privileg, in ein anderes Land reisen zu können.

Durch dieses Interview konnte ich sehr viel über das Leben und die Haltung gegenüber dem Leben nachdenken und lernen. Mir ist auch aufgefallen, wie wichtig es ist zu reisen, um sein eigenes Wissen zu vermehren und zu erweitern.

Ich nehme von diesem Gespräch sehr viele wichtige Erkenntnisse für mein Leben mit.

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