Die Wahrheit ist ein Opfer des Krieges

Die Wahrheit ist ein Opfer des Krieges. Die Ignoranz und Ungenauigkeiten in den Statements einer doch grösseren Anzahl Politiker:innen und Journalist:innen lassen zumindest darauf schliessen. Mir stossen verschiedene Aussagen, die in den Medien verbreitet wurden, auf.

Und ich frage mich, wie ich in der Schule guten Aktualitätsunterricht machen soll, wenn ich erst mal zu all den falschen Informationen Stellung beziehen muss und will. Stellung gegenüber meinen Gefühlen, Stellung gegenüber meinen jugendlichen Schüler:innen, die noch fast alles glauben, was ihnen über die elektronischen Medien vermittelt wird. Die meist noch unreflektiert Meinungen und Haltungen wiedergeben, die sie zu Hause aufschnappen und mitbekommen.

Krieg ist Krieg

Wenn ich aktuell Berichterstattung höre, sehe, lese, dann bin ich immer wieder schockiert über das fehlende Geschichtsbewusstsein und Empathie von Politiker:innen und Journalist:innen. Immer und immer wieder wird die Aussage wiederholt, dass wir uns in einer völlig neuen Situation in Europa befänden. In einer Kriegssituation, die es nach 1945 nie mehr gegeben habe.

Haben diese Personen die Kriege in Tschetschenien, Berg Karabach, Zypern vergessen? Fanden die nicht auf europäischen Gebiet statt? Und wie ist es mit dem Balkankrieg? Ist dieser Krieg nicht mehr in unserem Bewusstsein? Er kostete über 200 000 Menschen das Leben (Zivilisten sind in dieser Zahl nicht enthalten) und 2,5 Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen.

Ich erinnere mich noch gut an Schüler:innen, die aus diesem Kriegsgebiet kamen. Wie sie in Wochenbüchern oder im persönlichen Gespräch plötzlich über ihre Erlebnisse erzählten. Wie eine 9-jährigen ihren Bruder, der noch ein Säugling war, zwei Tage lang trug. Durch die Wälder Richtung Grenze. Immer darauf bedacht, dass er keinen Ton von sich gab. Wie mir eine 15-Jährige erzählte, wie sie damals von ihrer Grossmutter in einem Erdloch versteckt wurde, damit sie nicht vergewaltigt wird. Wie sie dieses Versteck aber nicht davor beschützte, die Schreie zu hören.

Diese Jugendlichen und ihre Eltern haben massive Traumata erlitten. Wir wissen heute, dass diese sich nicht nur auf das ganze Leben der Betroffenen auswirken. Traumata prägen das Familienleben noch über Generationen, sie können aber auch zu genetischen Veränderungen führen.

Und jetzt erfahren die Menschen z. B. aus dem Balkan, dass sie keine Opfer eines Krieges sind. Denn es gab keine Kriege in Europa nach 1945. Wie zynisch ist das denn? Ich weiss, dass solche Aussagen die Betroffenen triggern. Dass da alte Verletzungen hochkommen, dass sich die Opfer erneut Gefühlen und Erinnerungen stellen müssen. Und dass dadurch alle Familienmitglieder sowie die Atmosphäre in der Familie in Mitleidenschaft gezogen werden.

Reicht nicht die Aussage, dass es Krieg ist? Dass erneut ein Krieg ausbrach? Ist Krieg an sich nicht schon schlimm genug? Muss noch bewertet werden, dass es der erste, der kürzeste, der wasweissichste Krieg war? Geht es nicht in erster Linie, um die Menschen, die unter diesem Krieg leiden? Egal, wo und wann er stattfindet.

Na ja, einige Tage später passte man die Aussage dann an. Inzwischen präzisiert man, dass es sich um die am schnellsten anwachsende Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg handle.

Flüchtling ist Flüchtling

Diese Flüchtlingskrise führt dazu, dass ganz Europa bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Das erstaunt, schliesslich wurde in den letzten Jahren mit Vehemenz darauf hingewiesen, dass sich die Länder dies nicht leisten könnten, dass die Aufnahme von Flüchtlingen zu einer Überfremdung, mehr Kriminalität, weniger Arbeitsplätzen und natürlich zum Verlust der jeweiligen Kultur führen würden.

Der Meinungsumschwung, so positiv er zu werten ist, hat einen schalen Nebengeschmack. Verschiedentlich wurde in politischen Diskussionen und den Medien darauf hingewiesen, dass die ukrainischen Flüchtlinge der europäischen Kultur näher stünden und im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen auch gebildet seien.

Da habe ich echt die neusten Regelungen für Flüchtlinge verpasst. Also aufgepasst. Wenn du nicht aus einem christlichen Land stammst, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit massiv, dass du in einem europäischen Land Asyl bekommst. Da hilft dir auch nicht, wenn du etwa eine syrische Christin bist. Denn – dein Land ist nicht christlich, ergo passt du auch nicht zur europäischen Kultur.

Und ja, der Balkan … aber eben, die Kultur. Wenn du Muslim:a bist, dann passt du nicht zur restlichen europäischen Kultur. Die europäische Kultur ist christlich, Punkt. Nicht alle, aber über 60 % der Bevölkerung, allerdings spielt es keine Rolle, ob sie praktizierend sind oder nicht. Und christliche Gebote wie insbesondere die Nächstenliebe gelten nur für Christen. Wo kämen wir denn hin, wenn das für alle Menschen gelten würde?!

Das Bildungsniveau, das ist natürlich ein wichtiger Punkt. Spätestens seit der Kolonialzeit ist doch bekannt, dass in Europa die Wiege der Kultur und damit verbunden der Bildung liegt. Und somit versteht sich von selbst, dass nicht europäische Flüchtlinge einfach dumm, netter formuliert ungebildet, sein müssen.

Die folgenden Beispiele widerlegen diese Annahme. Da ist der Kurde, der neben meiner Schule einen Dönerstand führte. Früher, vor seiner Flucht, war er als Philosphieprofessor tätig. Oder der aus Afghanistan stammende Schüler, der ohne Begleitung von Erwachsenen in die Schweiz floh, hier Deutsch lernte und heute Psychologie studiert.

Fast vergessen

Wenn ich Beiträge in den sozialen Medien lese, dann spüre ich die Betroffenheit der User:innen. Allerdings gibt es auch da Kommentare und Nachrichten, die mich irritieren. Natürlich ist es entsetzlich, wenn der Beginn des Faschings und des Krieges zusammenfällt. Vielleicht würde ja ein offener Brief an die Staatsoberhäupter was nützen, in dem alle relevanten Daten notiert sind, an denen kein Krieg begonnen werden sollte. Das würde die Gefühle der Menschen, die nicht in einem Kriegsland leben, massiv entlasten. Schliesslich haben Mitgefühl und Solidarität auch irgendwann Grenzen.

Was ich mir wünsche

Ich wünsche mir für diese Welt und unsere Zukunft, dass wir beginnen, Menschen als Menschen wahrzunehmen und zu sehen. Ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Ohne sie in Schubladen zu verfrachten, ohne sie mit Vorurteilen und Clichées zu befrachten.

2 Kommentare zu „Die Wahrheit ist ein Opfer des Krieges

  1. Liebe Gabriella,
    Danke für deinen wichtigen Artikel, er hat mich berührt. Ich denke gerade an meine Oma zurück, die schwer traumatisiert war, weil sie neben allem, was der Krieg mit sich brachte auch noch ihre Heimat verlor. Unglaublich, und wieder passiert das gleiche…es tut so weh! Liebe Grüße Nicole

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