Écriture automatique (automatisches Schreiben), in einer erweiterten Form auch als Braindumping bekannt, ist eine sehr einfache Schreib-Technik, um die Kreativität anzukurbeln und Zugang zu Ideen und Gedanken zu bekommen. Was diese Technik von anderen abhebt – es wird von Hand geschrieben!
Immer wieder erlebe ich, wie Schüler:innen aber auch Erwachsene frustriert sind, weil sie angeblich nicht schreiben können und ihnen nichts einfällt. Sie sitzen vor einem weissen Blatt Papier oder sehen vor sich ein leeres Dokument am Computer. Das soll jetzt gefüllt werden – aber womit bloss? Der Kopf ist leer, kein einziger Gedanke will sich formulieren lassen, sich schreiben oder tippen lassen.
Als ausgebildete Schreibberaterin beschäftige ich mich mit dieser Problematik und biete meinen Klienten und Klientinnen möglichst einfache Tipps und Tricks an, wie sie schnell zu Ideen und dadurch zu Erfolgserlebnissen gelangen. Eine der einfachsten und gleichzeitig effizientesten Übungen stelle ich in diesem Artikel vor.
Warum wird bei der Écriture automatique von Hand geschrieben?
Bei der Écriture automatique wird ausschliesslich von Hand geschrieben. Das Schreiben von Hand aktiviert Hirnregionen, die für das Denken, die Sprache und die Erinnerung zuständig sind. Man könnte also durchaus sagen, dass die Hand ausführt, was das Hirn denkt :-).
Durch das Schreiben wird “etwas” in meinem Kopf angekurbelt, Erinnerungen kommen an die Oberfläche, verknüpfen sich zu Neuem, schaffen Aha-Erlebnisse, verweisen mich zu bereits gemachten guten Erfahrungen und Erkenntnissen. […] Während die Buchstaben sich auf dem Blatt ausbreiten, arbeitet mein Gehirn und bringt weitere Inputs. Die Gemächlichkeit ermöglicht neue Perspektiven, zeigt neue Wege und Zugänge auf. […]
Ich bin wirklich erstaunt, was diese simple Methode mit mir anstellt. Und dabei geht es ja nicht mal darum, ob ich es “richtig” mache. Richtig machen bedeutet richtig für mich. Alles, was mir während des Schreibens einen Nutzen bringt, mich näher zu mir bringt, mich “mich” verstehen lässt, bringt mich weiter.
(aus meinem Schreib-Journaling)
Durch das Tippen am Computer wird dieser Effekt nicht erreicht. Tippe ich auf der Tastatur, rennen meine Finger den Gedanken und formulierten Sätzen nach. Es ist ein Wettstreit, wer schneller ist. Und oft ärgere ich mich, wenn ich mich vertippe, weil ich dann den Faden des Satzes oder gar des Textes zu verlieren drohe. Geübte Tipper:innen tippen sogar schneller, als sie denken können.
Das geschieht mir bei handschriftlichen Notizen nie, da ich klar langsamer schreibe, als mein Hirn arbeitet. Dadurch bleibt während des Schreibens mehr hängen. Anderes formuliert: Während ich von Hand schreibe, verwurzeln sich die Gedanken in meinem Hirn und bleiben aktiv, selbst wenn ich schon lange nicht mehr am Schreiben bin.
Persönlich gefällt mir an der Écriture automatique auch, dass es sich um eine entschleunigte Tätigkeit handelt, die mich aus der Hektik und dem Getriebensein des elektronischen Alltags herausreisst und mir Ruhe und Gelassenheit ermöglicht.
Was braucht es für die Écriture automatique?
Für die Écriture automatique benötigt man einen Stift, ein Blatt Papier und einen Timer.
Folgende Grundregeln müssen immer eingehalten werden:
- Stell den Timer auf 5 Minuten ein. Nach einigen Tagen kannst du sie bis 15 Minuten erhöhen.
- Schreib möglichst schnell. Versuche, möglichst viele Wörter aufs Papier zu bringen. Schreib einfach, was dir gerade durch den Kopf geht.
- Mach keine Pausen, dh. dein Stift bleibt immer in Bewegung. Falls dir kein neuer Begriff einfällt, schreibst du den letzten nochmals auf.
- Grammatik, Rechtschreibung, Satzstellung u.ä. spielen keine Rolle.
- Korrigier oder streich nichts – weder während noch nach dem Schreiben.
- Der Text oder die Wortketten müssen weder logisch noch zusammenhängend sein.
Eine ungestörte und entspannte Atmosphäre unterstützt den Schreibprozess zusätzlich. Das kann durch einen gemütlichen Sitz- und Schreibplatz erreicht werden. Ich persönlich schreibe während der Écriture automatique immer mit meinem Lieblingsstift, einem Caran d’Ache-Kugelschreiber. Die Mine muss rollen und beim Schreiben nicht stocken.
Warum funktioniert Écriture automatique?
Mit Hilfe der Écriture automatique wird das Gehirn so überlistet, dass es beinahe in denselben Zustand wie während einer Achtsamkeitsübung gelangt. Durch die zeitliche Begrenzung und die Fokussierung auf eine einzige Tätigkeit wird ein Zustand von Gegenwärtigkeit erreicht. Multitasking oder Gedanken an etwas Anderes sind nicht möglich. Zusätzlich findet keine Beurteilung des Geschriebenen statt .
Die Écriture automatique ermöglicht es dem Schreibenden in etwas Ähnliches wie einen meditativen Zustand zu gelangen. Das Unbewusste entspannt sich und lässt Wörter und Gedanken fliessen. Das automatische Schreiben wird seinem Namen immer gerechter und die eigene Kreativität beginnt tatsächlich die Hand zu steuern.
Verschiedene Übungen zur Écriture automatique:
– Wörterlisten
Diese Übung verwende ich als Einstieg mit meinen Schüler:innen im Wahlfach Schreiben. Es ist eine sehr beliebte Übung, die bisher allen Schreibenden sofort Zugang zu ihrer Kreativität ermöglichte. Daher lasse ich hier eine Schülerin zu Wort kommen, die den Ablauf erklärt:
Lisa
Ich wusste gar nicht, dass ich immer denke und dass mein Kopf sehr viele Ideen enthält. Entdeckt habe ich das mit der Écriture automatique, so geht das Schreiben automatisch und von alleine. Frau Rauber gab uns einen Begriff „gelb“ und wir notierten das erste Wort, das uns spontan einfiel. Während wir schrieben, lief in unserem Kopf ein Film zu diesem Wort ab. Nachdem wir das erste Wort fertig geschrieben hatten, mussten wir kurz in unseren Kopf schauen, auf die „Pausetaste“ drücken und den nächsten Begriff notieren. Wir durften während drei Minuten nie aufhören zu schreiben, sondern immer wieder Wörter aufs Papier bringen. Am Ende haben wir uns unsere Wörterlisten vorgelesen. Wir haben uns die einzelnen Wörter angehört, die ja eigentlich gar nichts miteinander zu tun hatten und trotzdem erzählten sie uns eine Geschichte.
Diese Übung zeigt sehr gut auf, wie Écriture automatique funktioniert. Das Ausgangswort ist für alle Schreibenden identisch, aber es ist für die Wörterliste absolut irrelevant. Durch das Notieren des ersten Wortes wird das automatische Schreiben angeworfen. Das Bild der Pausentaste hat sich bewährt. Die Schreibenden kehren nicht mehr an den Beginn zurück, sondern lassen sich in ihrem Film vorwärtstreiben.
Nach drei Minuten erzählen die Wörterlisten individuelle Geschichten. Diese lassen sich aber erst durch das Vorlesen der Wörter erkennen. Das System ist vergleichbar mit dem Daumenkino: Die einzelnen Wörter ergeben aneinandergehängt einen flüssigen, logischen Erzählfilm. Diese Filme oder Geschichten, welche die Wörterlisten erzählen, bilden den Ausgangspunkt für die folgenden Schreibprozesse.
Für die Schreibenden ist es eine grosse Erleichterung zu spüren, dass sie sich nicht zum Schreiben zwingen müssen. Alles, was sie sagen wollen, ist bereits in ihnen angelegt. Sie müssen nur offen sein, die Kontrolle abgeben und alles aus ihrem Innern heraussprudeln lassen.
– Fragen
Wer bereits Erfahrungen mit der Écriture automatique hat, kann sich statt eines Begriffs auch eine konkrete Frage vorgeben und alle Assoziationen dazu notieren. Der grosse Unterschied zur Wörterliste liegt darin, dass hier immer auf den Ausgangspunkt zurückgegangen wird. Notiert werden Stichworte, Sätze oder Satzfragmente. Auch hier sollte unbedingt der Timer gestellt werden (maximal 15 Minuten), damit man wirklich nur bei dieser Frage und ihren Antworten bleibt.
- Wie gestalte ich den nächsten Kindergeburtstag?
- Was spricht für einen neuen Job?
- Wo verbringen wir unsere nächsten Sommerferien?
- Was sind die nächsten Themen, über die ich schreiben möchte?
Es ist allerdings möglich, dass das Unterbewusstsein sich dieser Frage verweigert und die Gedanken in eine andere Richtung lenkt. Trifft dies zu, ist es ganz wichtig, dass keine Autozensur stattfindet, sondern einfach notiert wird. Vielleicht geben diese Gedanken ja Antworten auf eine Frage, die man gar nicht zu stellen wagte. Ich stelle in diesen Fällen regelmässig fest, dass meine ursprüngliche Frage nur vorgeschoben war, mich aber im Innern etwas ganz anderes umtrieb.
Diese Notizen sollen ebenso wie alle anderen aufgehoben werden und können zu einem späteren Zeitpunkt verwendet werden.
– Themen / Glaubensätze
Anstelle von Fragen können auch Themen oder Glaubenssätze (Aussagen) mit der Écriture automatique bearbeitet werden. Damit wirklich Zugang zu den verborgenen Antworten gefunden werden kann, empfiehlt es sich auch hier, die Schreibzeit zu begrenzen. Hinterfrage ich Glaubenssätze, dann schreibe ich maximal 60 Minuten. Oft bin ich aber auch schon vorher ausgeschrieben und lasse dann ohne schlechtes Gewissen, den Stift ruhen.
Mögliche erste Ideen können sein:
- aktuelle Gedanken
- Familie
- Sorgen, Ängste oder Probleme, die immer wiederkehren
- Wünsche und Träume
- Highlights
- Ich bin geliebt
- Ich kann alleine sein
- Ich bin gern gesehen und herzlich willkommen
- ...
– Satzanfänge beenden
Manchmal ist viel Unruhe in unserem Kopf und Leben. Die Gedanken übernehmen langsam aber sicher die Kontrolle über den Alltag. Die Écriture automatique kann benutzt werden, um wieder ruhiger zu werden und Ordnung ins Chaos zu bringen. Gedanken auf dem Papier festzuhalten, bringt sie aus dem Kopf.
Das kann unstrukturiert, wie in den vorhergehenden Beispielen, vor sich gehen oder man arbeitet mit Satzanfängen. Entweder werden vor der Écriture automatique Satzanfänge notiert, die anschliessend in beliebiger Reihenfolge beantwortet werden oder man arbeitet mit einer vorgegebenen Liste. 10 Minuten reichen für diese Übung.
Mögliche Satzanfänge sind:
- Ich mache mir Sorgen, …
- Ich denke dauernd, …
- Ich hoffe, …
- Ich muss …
- Ich sollte …
- Ich bin überzeugt, dass …
- Ich ärgere mich, dass …
- Ich frage mich, ob …
- Ich darf auf keinen Fall …
Wenn mittels der Écriture automatique am Kopfchaos gearbeitet wird, dann ist es hilfreich, nach dem Aufschreiben eine Nacht darüber zu schlafen. Zu einem späteren Zeitpunkt können die Notizen nochmals angeschaut und analysiert werden. Oft hilft die Distanz einen neuen Blick auf Probleme zu kriegen. Entweder lassen sich bereits jetzt schon Strategien ableiten oder es tauchen Glaubenssätze ans Licht, die erneut bearbeitet werden.
Gute Gründe für die Écriture automatique
Unser Gehirn kann logisch denken, Informationen speichern, Transferleistungen vornehmen, analysieren, Zusammenhänge herstellen und vieles mehr. Trotzdem kann der Mensch nicht gezielt alle Informationen abfragen. Vieles ist so gut versteckt, dass das Gehirn überlistet werden muss, damit ein Zugang ermöglicht wird.
Manchmal ist es wichtig, den Kopf zu leeren, allerdings wäre es schade, diese Gedanken ungenutzt zu lassen. Écriture automatique hilft dabei, einerseits den Kopf wieder frei zu bekommen und gleichzeitig die Gedanken festzuhalten, um sie später nutzen zu können.
Durch das Aufschreiben erscheinen auch unnütze oder belastende Gedanken in einem anderen Licht, oft führen sie sogar zu Ideen, an die vorher nicht gedacht wurden. Mithilfe der Notizen können Handlungen und Entscheidungen abgeleitet oder zur Selbstreflexion verwendet werden.
Durch die Écriture automatique wird die Produktivität gesteigert, da über das Schreiben Klarheit, Ordnung und Ruhe einkehrt. Dadurch kann die eigene Kreativität erst richtig zum Vorschein kommen. Wer sich regelmässig auf die Écriture automatique einlässt, wird sich seiner aktuellen Prioritäten bewusst und weiss, womit er sich gedanklich besonders beschäftigt.
Woher stammt die Écriture automatique?
Zum Ende dieses Artikels noch einige Informationen über die Entstehung der Écriture automatique.
Ende des 19. Jahrhunderts liess der französische Psychotherapeut Pierre Janet seine Patient:innen in Trance oder unter Hypnose frei schreiben, wodurch sie ihre unbewussten Gedanken und -gänge offenbarten.
In den 20er Jahren des folgenden Jahrhunderts entdeckte André Breton und die Surrealisten die Écriture automatique für die Literatur. Sie wurde als das Verfahren ausgerufen, welches das Denken der Schriftsteller durch die Freisetzung des Imaginativen erweiterte. Das Ziel war es, die Vernunft, die Planung, die Beeinflussung und Kritik durch die äussere Umgebung auszuschalten und sich ausschliesslich auf die eigene Psyche und das Unterbewusstsein zu fokussieren.
Liebe Gabriella, ich kenne diese Methode in verschiedenen Ausführungen und I love it! Dein ausführlicher Artikel dazu hat mir jetzt so viele neue Ideen gegeben, wie ich es beim Coachen anwenden kann. Danke für die Impulse und für deinen tollen Artikel! Viele herzliche Grüße Eva
Liebe Gabriella,
danke für diese aufschlussreichen und spannend geschriebenen Ausführungen! Ich schreibe immer wieder über längere Zeiträume Morgenseiten, aber die Écriture sutomatique eröffnet wieder ganz andere Möglichkeiten, das will ich unbedingt ausprobieren.
Liebe Grüße Silke
Schön, das sich dich inspirieren konnte :-).
Deine Antwort und die Erwähnung der Morgenseiten hat mich zu meinem heutigen Beitrag inspiriert 🙂