Testimonial – Erinnerungen an eine unvergessliche Lehrperson

In einem meiner letzten Artikel schrieb ich über meine Erinnerungen an meine Schulzeit. Der aktuelle Artikel beschreibt die Erinnerungen einer ehemaligen Schülerin an meinen Unterricht und mich.

Marisa war eine Schülerin meines ersten Klassenzuges. Nach einigen Jahren in ihrem erlernten Beruf entschied sie sich, eine weitere Ausbildung in Angriff zu nehmen und Sekundarlehrerin zu werden. Während ihres Studiums erhielt Marisa den Auftrag, eine unvergessliche Lehrperson zu interviewen. Sie sollte sich fragen, warum ihr diese Lehrperson auch noch nach Jahrzehnten in Erinnerung geblieben war und welche Spuren der Unterricht an ihr hinterlassen hatte.

Ich habe mich sehr über ihren Besuch und ihre Fragen gefreut. Und ich fühle mich geehrt, dass sie mich als unvergessliche Lehrperson bezeichnet und ausgewählt hat. Einige Wochen später stellte sie mir ihren Lernnachweis der Pädagogischen Hochschule Zürich zur Verfügung, den ich hier nun veröffentliche.


Marisas Erinnerungen an eine unvergessliche Lehrperson

Meine unvergessliche Lehrperson ist Frau Rauber. Sie war während der drei Jahren an der Sekundarschule meine Lehrerin in den Fächern Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und Zeichnen. Ich habe mich für sie entschieden, weil sie von all meinen Lehrer:innen in meiner langen Schulkarriere die Einzige war, die einen engen Kontakt zu uns Schüler:innen pflegte und viel Engagement zeigte.  

Mein Beginn in der Sekundarschule

Als ich von der Primarschule in die Sekundarschule wechselte, wurde ich zunächst in ein tieferes Niveau eingestuft und besuchte deshalb keine Fächer bei Frau Rauber. Allerdings schwärmten alle meine Freunde, die bei ihr in der Klasse waren, von ihr. Nach drei Monaten wurde ich endlich in das höhere Niveau aufgestuft, wodurch Frau Rauber meine Lehrerin wurde.

Ich wurde von Frau Rauber wie auch von der ganzen Klasse herzlich empfangen. Frau Rauber half mir, den verpassten Lernstoff nachzuholen. Meine Mitschüler:innen kannte ich bereits aus meiner Primarschulzeit, weshalb ich mich auf Anhieb gut mit ihnen verstand.         

Was machte Frau Rauber zu einer unvergesslichen Lehrperson?

Ich notiere hier nur einige Beispiele, warum Frau Rauber mir und bestimmt auch anderen Mitschüler:innen unvergesslich blieb.

1. Sie nahm uns ernst

Frau Rauber nahm sich immer gerne Zeit für uns. Hatten wir ein (persönliches) Problem, hörte sie uns aufmerksam zu und suchte mit uns nach möglichen Lösungsansätzen oder Verhaltensänderungen. Sie erteilte nie Ratschläge von oben herab. Bei Konflikten versuchte sie, zusammen mit allen Beteiligten eine Lösung zu finden, damit wir einen Schritt weiterkamen. Wenn uns etwas an ihrem Unterricht störte, konnten wir sie darauf ansprechen. Diese Kritik nahm sie an und versuchte sie auch umzusetzen.

2. Freude am Unterrichten und an Neuem

Durch ihre fröhliche Ausstrahlung war es ihr möglich, jede:n Einzelne:n zum Lernen und Mitwirken zu animieren. Sie war offen für Neues – Lernen bedeutete für sie weit mehr als das Abarbeiten von Arbeitsblättern oder dem Vorwärtskommen im Lehrbuch. Indem Frau Rauber die Stunden abwechslungsreich gestaltete, war jede:r Schüler:in motiviert.

Erst im Gymnasium merkte ich, wie viel Grammatik wir in ihrem Unterricht gelernt hatten. Und das, obwohl wir nie offiziellen, langweiligen Grammatik-Unterricht hatten. Sie verpackte den Stoff so, dass wir neugierig waren, mitmachten und lernten, ohne zu merken, was wir eigentlich taten.

Während meiner Schulzeit gab es noch keine Vorbereitungskurse für die Prüfung ans Gymnasium. Frau Rauber bot denjenigen, die an die Kantonsschule gehen wollten, eine Gymivorbereitungsstunde in ihrer Freizeit an. Diese stand aber auch allen anderen interessierten Schüler:innen offen.  Dieses Engagement schätzten wir in unserer Klasse in besonderem Masse.

3. Projekte entstanden aus kleinen Ideen

Vielfach wurde aus einer kleinen Idee ein ganzes Projekt. So las sie einmal mit uns einen Ausschnitt aus einem Stück von Shakespeare. Mehrere Schüler:innen waren komplett begeistert und wollten mehr über Shakespeare und Theaterstücke erfahren. Da in der Saison 99/00 gerade der Blutspuren-Zyklus im Schauspielhauskeller aufgeführt wurde, nahm Frau Rauber Kontakt mit dem Theater auf.

Während mehrerer Monate besprach sie mit interessierten Schüler:innen in ihrer und unserer Freizeit die Texte und besuchte jeweils mit uns die Vorstellungen. Sie hatte einen Deal mit dem Schauspielhaus ausgehandelt, damit wir diese gratis besuchen konnten. Zweimal durften wir sogar nach den Vorstellungen Szenen mit den Schauspieler:innen auf der Bühne nachspielen. Und der Bildband, der aus diesen Vorstellungen entstand, bekamen wir erst noch von den Schauspieler:innen geschenkt.

4. Mut zu unkonventionellen Handlungen

Mit ihrer Italienisch-Klasse besuchte sie ein Eros Ramazotti-Konzert und organisierte am Ende unserer Schulzeit eine Exkursion nach Italien. Dieses Engagement schätzten wir bereits damals in unserer Klasse in besonderem Masse.

Als wir ins Klassenlager gingen, kam Frau Rauber als Begleitperson mit. Am zweiten Tag unternahmen wir eine längere Wanderung. Da wir uns verirrten, wurde die Wanderung jedoch noch länger. Alle Schüler:innen waren sehr erschöpft, hatten Durst und Riesenblasen an den Füssen. Was machte Frau Rauber in dieser Situation? Sie hielt ein Auto an und bat den Fahrer, die Schüler:innen und sie zum Ziel zu fahren. Unser Klassenlehrer war darüber nicht sonderlich erfreut, weshalb er Frau Rauber und uns bestrafte.    

Nach 20 Jahren wieder in ihrem Schulzimmer

Ich besuchte Frau Rauber einen ganzen Morgen. In unserem Vorgespräch hatte ich bereits erfahren, dass sie inzwischen andere Fächer unterrichtet. Waren es früher hauptsächlich Sprachen, so hatte sie inzwischen Englisch und Zeichnen gegen Geschichte sowie Religion, Kultur und Ethik ausgetauscht.       

Ebenfalls distanzierte sie sich vom Frontalunterricht und arbeitet nun mit der Methode des kooperativen Lehrens. Daher veränderte sich auch die Sitzordnung. In unserem Klassenzimmer standen die Bänke alle reihenweise hintereinander. In ihrem aktuellen Schulzimmer sind die Bänke zu fünf Gruppentischen sowie einem grossen Diskussionstisch geordnet.

Weiter fiel mir auf, dass Frau Rauber immer noch sehr engagiert ist. Als ein Schüler ihr mitteilte, dass er demnächst ein Vorstellungsgespräch habe, bot sie ihm kurzerhand an, dieses Gespräch mit ihm zu üben. Ein anderer Schüler fragte, ob er an ihrem freien Nachmittag in die Schule kommen und sie ihm dann mit der Bewerbung helfen könne. Dieser Bitte ist sie selbstverständlich nachgegangen.

Frau Rauber arbeitet mit neuen Ritualen. So verwendet sie die Klangschale, um anzuzeigen, dass die Gruppenarbeit zu Ende ist. Wenn sie eine Frage stellt, dann entscheidet sie durch Würfeln, wer antworten darf.    

Sie wirkt im Schulzimmer viel gelassener, selbstsicherer und lässt sich nicht so schnell provozieren. Im Zimmer befinden sich mehrere Pflanzen, wodurch eine behagliche und gemütliche Atmosphäre entsteht.

Trotz der vielen Veränderungen ist sie ihrer Unordnung auf ihrem Schreibtisch treu geblieben. Wie früher häufen sich dort Berge von Heften und Aufgabenblätter.

Ich hatte das Gefühl, dass die Schüler:innen Frau Rauber sehr mögen und denke, dass sie deshalb auch diesen Schülern unvergesslich bleiben wird.

Meine Thesen

Ich habe mich gefreut, meine ehemalige Lehrperson zu treffen und mich mit ihr zu unterhalten. Ihre Grundhaltung gegenüber dem Lernen und ihren Schüler:innen hat sich in den Jahren nicht verändert. Das führe ich darauf zurück, dass sie immer authentisch aufgetreten ist und ehrlich gegenüber sich und ihren Schüler:innen war und ist.

Zum Abschluss dieses Lernnachweises soll ich darlegen, wie mich meine Lehrperson prägte. Welche Konsequenzen leite ich für mich als Lehrperson ab? Ich komme auf drei Thesen, die aus einer normalen Lehrperson eine unvergessliche Lehrperson machen:

  • Eine gute Lehrperson zeigt Engagement und motiviert dadurch ihre Schüler:innen zum Lernen.
  • Eine gute Lehrperson tritt mit ihren Schüler:innen in Beziehung. Sie unterstützt sie und hilft ihnen individuell, wodurch die Schüler:innen Vertrauen zu ihr und sich selbst aufbauen. 
  • Eine gute Lehrperson ist dialog- und kritikfähig.

Liebe Marisa.
Ich danke dir für diese Aussensicht und wünsche dir von Herzen viele tolle Erlebnisse als Sekundarlehrerin. Danke für deine Wertschätzung und Ehrlichkeit.

2 Kommentare zu „Testimonial – Erinnerungen an eine unvergessliche Lehrperson

  1. Ist ja der Wahnsinn, liebe Gabriella! Ich habe vor Rührung tatsächlich manch ein Tränchen vergossen! Toll, liebe Gabriella, du bist eine ganz besondere Persönlichkeit. Es muss wirklich Vergnügen machen, dich kennen zu dürfen!

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